Reise in den hohen Norden
Nun denn:
Bei unserem ersten Ausflug an Land sieht es aus wie in den Bergen in der Schweiz auf etwa 2000 Metern – Bergblumen, vermooste Steine, ein kleiner See mit Wasservögeln, der Himmel blau, ein Fuchs, der gemütlich davon hoppelt. Wie schön müsste es sein, an der Gruppe, die gerade ihre Objektive auf die Bergblumen richtet, vorbeizuziehen. Einige knien oder liegen gar, um die Blümchen festzuhalten. Doch hinter jedem Stein könnte ein Eisbär es sich bequem gemacht haben, so wird es uns gesagt.
So ganz an die Eisbärengeschichten zu glauben fällt uns schwer – bis wir am Morgen des nächsten Tages vom Schiff aus einen Eisbären der Küste entlangwandern sehen und etwas später, in den Zodiac-Schlauchbooten sitzend, uns langsam einem inmitten on Blumen sich ausruhenden Eisbären nähern. Nur das monotone Geräusch der zehn Zodiacmotoren ist zu hören. Hundert Augenpaare betrachten den Bären, niemand redet, bis der Bär endlich einmal kurz den Kopf in die Höhe streckt und die dick ingepackte Schar regungslos auf den Zodiacs sitzender Menschen betrachtet – und gähnt. Da hört man ein leises Ah! Der Bär legt den Kopf auf die Pfoten und schliesst die Augen. Er muss uns schon von weitem gesehen und uns als Non-Food taxiert haben. Gerne hielten wir uns auf den folgenden Wanderungen hinter dem Leiter.
In Longyearbyen, Hauptort und eine der drei ganzjährig bewohnten Siedlungen, fallen besonders die vor jedem Haus parkierten Schneescooter auf, ca. viertausend sollen es sein für die gut 2000 Einwohner. Rostige Masten an den Berghängen, Stolleneingänge, 2 eine alte Transportbahn erzählen von früherer Bergbautätigkeit. Sämtliche Überbleibsel menschlicher Hinterlassenschaften vor 1946 sind auf den Inseln geschützt. Davon liegt einiges herum. Am Ende der Siedlung warnt ein Schild vor Eisbären. Ab hier darf man nur bewaffnet unterwegs sein.
In Barentsburg einer ukrainisch-russischen Siedlung dominiert heute noch der Bergbau. 500 Menschen leben hier das ganze Jahr über. 60 Kinder besuchen die Schule. Die Unterrichtssprachen sind Ukrainisch und Russisch. Iwan, der junge Fremdenführer, erzählt mit viel Begeisterung von seiner Wahlheimat.
Wolkenlos der Himmel zu Beginn der Schiffsreise. Die langsam vorbeiziehenden Gletscher und Bergspitzen glitzern in Weiss-, Blau- und Grüntönen. Die Abendsonne geht unmerklich über in die Sonne der Nacht.
Weiter im Norden landen wir mit den Zodiacs auf Phippsøya, eine der Sieben Inseln (Sjuøyane). Hier ist der nördlichste Norden Norwegens – und fast das Ende der Welt. Es bläst ein kalter Wind. Viel Holz aus Sibirien, durchmischt mit Plastikmüll, liegt am Strand. Eine verfallene Trapperhütte und zwei Walrosse auf der anderen Seite der Insel unterbrechen die Steinlandschaft. Nur selten wächst eine Blume in dieser Steinwüste. Nicht mehr weit ist es von Sjuøyane bis zur Eisgrenze. Wie ein gerade gezogenes Ufer zeichnet sich diese später ab. Kurz darauf sind wir mittendrin. Zuerst begleitet uns die Dünung des offenen Wassers. Doch bald erstarrt das Meer.
Eisschollen in vielen Formen, dazwischen dünnes, klares, blau schimmerndes Eis. Die Motoren werden gedrosselt. Der Himmel wolkenverhangen, Eis bis zum Horizont. Weiter nach Norden wird das Treibeis sich zu Packeis türmen, wissen wir, und fast neunhundert Kilometer weiter nördlich werden die Längengrade sich zu dem Punkt vereinen, an dem die Nacht zu Beginn des Frühlings zum Tag wird und der Tag zum Herbstbeginn in der Nacht versinkt. Wie wäre es am 21. März auf dem Nordpol zu stehen? Weiter gegen Westen, so um den 86. Breitengrad, befindet sich jetzt der magnetische Nordpol. Wird die Kompassnadel dort einen Freudentanz aufführen?
Lange stehe ich an der Reling und betrachte die Eisformationen, lasse mich einhüllen in die Melancholie dieser eisigen Schönheit, lasse mich forttragen in die stille Weite des Eismeeres, die sich ausdehnt bis ins Unermessliche. Ich wünsche mir, zu Hause diese
Allzu schnell sind wir zurück am Kai in Longyearbyen und müssen nach gefühlvollem Abschied von der Crew in den Alltag zurückfinden.
Rund um Spitzbergen Ortelius - 06. Juli – 17. Juli 2016